Everyone Called Him By His First Names

Mein zweiter Morgen in Dublin ist zugleich mein letzter vor meiner Abreise nach Galway. Ich habe Tee und Orangensaft (die große Liebe meines Lebens) im Café "The Bald Barista" getrunken und mindestens fünf Dubliner "the usual" bestellen hören, und jetzt werde ich endlich von gestern Abend erzählen.

John Gabriel Borkman
A Review

Leute, die nicht ins Theater gehen, sind mir ein Rätsel. Oder besser gesagt, Leute, die nicht ins Theater gehen, weil sie Kino und Fernsehen bevorzugen, sind mir ein Rätsel. Ein Theaterstück ist so viel mehr als nur Bewegung auf einer Bühne und viele Worte, da ist die Gegenwart lebendiger Menschen, die nicht einen Blick ins Publikum werfen und gleichzeitig keine Regung, kein Flüstern vor ihm verbergen können, der Hauch von Parfüm verändert sich, wenn die männlichen Schauspieler die Bühne betreten, man versucht beinahe instinktiv, einen Blick auf das Geschehen hinter die Kulissen zu erhaschen - und freut sich diebisch, wenn es einem gelingt. Ich liebe Theaterstücke.
Ich komme aus einer Stadt, in der man in Bezug auf Theater sehr verwöhnt wird. Und ich dachte, ich hätte in den letzten zwei Jahren (ein Stück pro Monat, jedenfalls ungefähr) jede Menge Erfahrung gesammelt und sei nicht mehr so leicht zu überraschen. Bis gestern Abend.

Abbey Theatre

Das Abbey Theatre (einst von W. B. Yeats gegründet) ist Irlands Nationaltheater und schon als ich den Theatersaal betrete, fühle ich mich angemessen verzaubert. Zu Hause ist das Bühnenbild meistens schwarz, wenn man Glück hat, steht irgendwo ein einsamer Stuhl. Die Bühne, die in der Abbey auf mich wartet, ist wie ein schöner, kalter Traum. Zwei Wände und eine Decke, zwecks Perspektive verzerrt, bilden eine Art Wohnzimmer mit alten Polsterstühlen, einem Ofen, einem Sofa, auf dessen Rückenlehne alte Schwarzweißfotografien in angelaufenen Rahmen stehen. Die Wände sind über und über mit weißen Flecken bedeckt und transparent, was aussieht, als wären Glasscheiben tagelang einem Schneesturm ausgesetzt gewesen. Zu beiden Seiten der Bühne, außerhalb des Zimmers, türmt sich Kunstschnee zu einer verwehten Landschaft auf. Die Bühne wartet in einem bläulichen Licht still vor sich hin.

Man nimmt Platz. Rechts und links von mir sitzen Menschen, denen das Thema des Stücks wohl noch näher geht als mir (immerhin geht es gerade darum, ob Irland Hilfen von der EU annehmen soll oder nicht), ich komme mir hingegen vor, als hätte ich gerade ein Überraschungspaket bekommen. Bisher dachte ich immer, es wäre klüger, sich vorher im Theaterführer kundig zu machen, worum es geht, aber jetzt weiß ich, dass es ohne Vorbereitung viel aufregender ist. "John Gabriel Borkman" entfaltet sich wie eine Eisblume, vollkommen und schön in seiner Kälte.
Es geht um einen Bankmanager, der einen Schritt von der vollkommenen Macht entfernt war und dann durch den Verrat eines engen Freundes alles verloren hat. Für ihn bedeutet das Gefängnis, für viele seiner Mitarbeiter und seine Familie Bankrott. Nun, acht Jahre nach seiner Entlassung, lebt er im ersten Stock seines Hauses und setzt nie einen Fuß nach draußen, während seine Frau im Erdgeschoss bleibt. Sie sehen sich nie. Sie sprechen nicht einmal den Namen des anderen aus. Das klingt bizarr. Und es ist herzzerreißend mitanzusehen.

Das Stück beginnt damit, dass Mrs Gunhild Borkman in ihrem Salon sitzt und den Schritten über ihrem Kopf lauscht. Dort wandert der, über den sie nicht spricht, aber den sie nicht vergessen kann, wie ein Wolf in seinem Käfig auf und ab. Sie wartet auf ihren Sohn, Erhart, in dem sie ihre Chance zu neuem Reichtum und Rache an John Gabriel sieht. Wer kommt, ist allerdings nicht Erhart, sondern ihre Zwillingsschwester Ella, die sie vor acht Jahren das letzte Mal gesehen hat.
Ella ist gekommen, um Erhart, um den sie sich nach John Gabriel Borkmans Gefangennahme lange Zeit gekümmert hat, zu sich zurück zu holen. Gleichzeitig ist sie die Frau, die Borkman vor seiner Laufbahn als Bankmanager wirklich geliebt hat - und deren Liebe er betrogen hat, indem er aus Karrieregründen ihre Schwester geheiratet hat.

Fiona Shaw

Das alles wird auf der Bühne des Abbey Theatres mit viel Sorgfalt und, überraschenderweise, viel schwarzem Humor umgesetzt. Ja, es ist lustig, wenn der alte, verbitterte John Gabriel mit frauenfeindlichen Sprüchen um sich wirft und wenn Mrs Wilton sich in aller Öffentlichkeit über ihre Beziehung zu dem sehr viel jüngeren Erhart auslässt. Es ist lustig, wie diese zwei Schwestern sich gegenseitig bekritteln und auf keinen Fall die eigenen Schwächen eingestehen wollen.
Aber es ist auch traurig und schmerzhaft und die Charaktere bleiben glaubwürdig und ernst. Fiona Shaw spielt Mrs Gunhild Borkman und ist so verbittert und verzweifelt und verstockt, dass man nicht anders kann, als mit ihr zu fühlen. Sie hat während der ersten Szene ständig Tränen in den Augen. Wann immer Erhart die Bühne betritt, leuchten ihre Augen hoffnungsvoll auf, aber gleichzeitig ist da auch irgendetwas falsch an ihrer intensiven Beziehung zu ihrem Sohn.
Lindsay Duncan ist Gunhilds Schwester Ella Rentheim und wirkt auf den ersten Blick vernünftiger und realistischer. Sie will, dass Erhart ihren Nachnamen annimmt, wenn sie gestorben ist, denn sie ist die Letzte ihrer Familie und todkrank. Aber dann kommt ihre erste Konfrontation mit John Gabriel, in der man alles über ihre frühere Beziehung erfährt, und plötzlich bekommt die vernünftige Fassade Risse. "You killed love within me", schreit sie ihn an. Trotzdem hat man nicht das Gefühl, dass sie ein unschuldiges Opfer ist.

John Gabriel & Frida

Und dann ist da der Mann selbst. Alan Rickman spielt John Gabriel Borkman so ernst und hart und schwach, dass man in ihm einfach nicht nur die böse, korrupte Person sehen kann, für die ihn die Öffentlichkeit hält. Ja, er ist uneinsichtig, ja, er hofft darauf, ein zweites Mal ganz nach oben zu kommen und diesmal nicht die Kontrolle zu verlieren, aber dann sieht man ihn, der jahrelang erst im Gefängnis und dann im eigenen Haus gesessen hat, wie er beinahe klaustrophobisch nicht mehr ins Haus zurückkehren will, als er es einmal verlassen hat.
Dabei wartet dort draußen nichts Gutes auf ihn. Denn zum Schluss kommt heraus, dass weder die Schwestern, noch John Gabriel, der auf einen zweiten Frühling hofft, ihren Traum erreichen werden. Das Objekt ihrer Träume, der (beinahe) gemeinsame Sohn Erhart, hat nicht vor, sein Leben einem von ihnen zu opfern, lieber geht er mit seiner Geliebten in den Süden. Dass er damit das Herz seiner Mutter bricht, muss er hinnehmen. "Don't touch me!", schreit sie, beinahe panisch, als er sie zum Abschied umarmen will.
Erhart lässt seinen Vater und die beiden Frauen im norwegischen Schneetreiben zurück. Also geht John Gabriel allein los, um noch einmal die Schiffe, die Minen und die Wälder zu sehen, die ihm hätten gehören sollen. Ella folgt ihm.

Und dann steht dieser Mann dort und blickt zum ersten Mal seit Beginn des Stückes zum Publikum. Er ist so verloren in seinem Traum, dass man die Schiffe, Minen und Wälder beinahe in seinen Augen sehen kann. Das ganze Stück lang hat Alan Rickman die ganze Breite seiner wunderbaren, unheimlichen Stimme genutzt und gespottet, gemahnt, gegrollt und gedonnert, aber nun flüstert er, und das ist genauso einschmeichelnd wie furchteinflößend:
"I love you. I love, love, love..."
Dann ist alles zu viel für ihn. Ella steht neben ihm und unternimmt nur einmal den nicht ganz ernst gemeinten Versuch, Hilfe zu holen, während John Gabriel vor ihr im Schneetreiben stirbt, grauenvoller und realistischer, als ich es je auf einer Bühne gesehen habe. "It's better this way", sagt sie ruhig, nachdem sie nach seinem Puls gefühlt und keinen gefunden hast.
Und dann ist da Gunhild, die sich doch noch auf die Suche nach den beiden gemacht hat. Über dem Toten, den wir in der ersten Reihe doch noch Atmen sehen können, schütteln beide Schwestern einander die Hände und dann gehen die Lichter aus.

Alan Rickman

Die Dubliner sind mit ihrem Applaus recht sparsam. Immerhin schließt sich das Überraschungspaket damit, dass die erschöpften und nun endlich lächelnden Schauspieler sich verbeugen und ihrem Publikum zum ersten Mal an diesem Abend in die Augen sehen. Eine sichtlich erleichterte Fiona Shaw erwidert mein Lächeln - ich bin auch kaum zu übersehen, in der Mitte der ersten Reihe, zwischen lauter dunkel gekleideten Männern Mitte vierzig. Der Darsteller des Titelhelden strahlt nicht, aber das hat auch keiner erwartet. Auch er wirft mir einen Blick zu. Alan Rickman schaut Menschen nicht an, es ist mehr ein seitlicher Blick aus den Augenwinkeln, und dazu ein sehr dünnes Lächeln, das fast kein Lächeln ist.
Aber es genügt.

Wir verlassen das Abbey Theatre. Und ich bin mir sicher, dass dies gerade das beste Stück war, das ich je in meinem Leben gesehen habe. Und wenn ein Journaleintrag mehr Herzblut enthalten kann, dann bin ich eine schlechtere Schriftstellerin, als ich bisher angenommen hatte.

Mood: Thankful hopeful-optimistic-thankful-touched
Mahri (Gast) - 20. Nov, 02:54

meow

Ich bin neidisch :-*
... und ich habe jetzt schreckliche Lust, ins Theater zu gehen.
Und nein, du bist definitiv keine schlechte Schriftstellerin ;)

Resa (Gast) - 22. Nov, 08:32

Ich bin..

..soooo neidisch. Wirklich wahr. Aber ehe ich vor lauter Vorfreude auf so ein Ereignis das Zeitliche segne... da roll ich mich doch lieber gemütlich mit seinem Hörbuch und einer heißen Schokolade vorm Kamin ein.. :D

Liebe Grüße und vielen Dank für deine hübschen Journaleinträge :)
Resaaa^^
Thessa (Gast) - 23. Nov, 16:57

wie schön du schreibst!
herz <3

Confusiël uses Pens

Irland, Tee und zum Sterben schöne Bilder.

Cunning Pens

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Music for the Scatterbrained


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Under the Pink


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Zuletzt aktualisiert: 30. Mai, 22:24

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